Ghosting ist der Schatten einer Welt, die ihre Verbindung verloren hat.

Christine Rudolph, Traumatherapeutin, Systemischer Coach, Heilpraktikerin Psychotherapie

Von 100 auf 0 – von heute auf Morgen. Manchmal auch schleichend. Immer verletzend. In früheren Zeiten auch als „Zigaretten holen“ bekannt – ohne Rückkehr.

Ghosting – wie ein Geist plötzlich verschwinden – ist zu einem immer größer werdenden Phänomen und Problem geworden. Nicht nur in privaten Beziehungen oder Freundschaften, sondern mittlerweile auch im Unternehmenskontext.

Menschen verschwinden einfach – auch wenn vorher „alles in Ordnung“ war. Oder vielmehr schien. Puff. Weg. Keine Nachricht mehr. Keine Antworten. Entfolgt, Blockiert.

Ghosting ist ein plötzlicher und kompletter Kontakt- und Kommunikationsabbruch.

Weggeworfen

So fühlen sich Menschen, die geghostet wurden. Weggeworfen.

Eine sich anbahnende Beziehung. Ein Bewerbungsgespräch, welches vielversprechend lief. Eine schon laufende Beziehung über eine längere Zeit. Nichts davon aber ist so, wie es schien. Das ist die (meist spätere) Erkenntnis nach einem Ghosting. Plötzlich ist alles anders. Plötzlich erscheint alles in einem anderen Licht. Die sich anbahnende Beziehung war eine Illusion. Das gefühlt gut laufende Bewerbungsgespräch eine Luftblase. Nichts von dem, was der andere gesagt hat, war echt.

Ghosting ist emotionale Unreife

Traumatischer Schock

Realisieren Menschen, was ihnen widerfahren ist, hat dies tiefgreifende Auswirkungen. Wir sind vielleicht ganz unbeschwert, vielleicht sogar verliebt und mit Schmetterlingen im Bauch oder einer positiven Aufregung bei einem Bewerbungsgespräch herangegangen. Vielleicht gab es schon ein – fast nicht fühlbares – komisches Gefühl im Bauch. Aber die Schmetterlinge waren größer. Die Neugier auf das Neue.

Was dann kommt, ist der tiefe Fall. Aus der Seifenblase auf die Erde. Ein Schock. Und viel mehr noch: meist hinterlassen gewaltvolle Verhaltensweisen wie Ghosting einen riesigen Vertrauensbruch, und oftmals sogar eine posttraumatische Belastungsreaktion.

Ganz klar, schliesslich wurde unser Weltbild auseinandergerissen. Unser Vertrauen angegriffen und sogar zerstört.

Beziehung ist Kommunikation und Kontakt. Ohne Kommunikation und Kontakt = KEINE Beziehung

Ghosting sagt so viel über den Ghoster.

Christine Rudolph, Traumatherapeutin, Systemischer Coach, Heilpraktikerin Psychotherapie

Angst – treibende Kraft beim Ghoster

Wieso aber ghosten Menschen? Wieso sabotieren sie eine Beziehung? Ist das Absicht? Was steckt dahinter?

Die einfache Antwort ist: Ghoster haben Angst. Manchmal ist ihnen das sogar bewusst. Oftmals aber ist es das nicht. Aber nur, weil ihre Angst ihnen nicht bewusst zugänglich ist, heißt das nicht, daß sie nicht da ist: sie ist die treibende Kraft. Und aus Angst wird Feigheit. Und Verdrängung.

Das, was dem Ghoster unangenehm ist oder wo Konflikte drohen, das umgeht er (oder sie). Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird alles Unangenehme unter den Teppich gekehrt, bis es nicht mehr geht. Um dann einer möglichen Konfrontation zu entgehen, verschwindet er einfach. Lautlos. Wie ein Geist. Und hinterlässt den anderen mit Fragezeichen und tiefen Wunden.

Manchmal tut ihm – dem Ghoster – das selbst weh. Aber er weiss sich einfach nicht anders zu helfen. Oftmals aber verdrängt er auch dieses Gefühl – unter den berühmten Teppich.

Menschen, die ghosten, weichen aus. Das ist ihre Strategie. Vermeiden. Verdrängen. Sie haben es nicht anders gelernt. Wenn man etwas tiefer schaut, steckt eine große innere Not dahinter – die Not, die im Kindesalter gefühlt wurde. Und keine Berechtigung hatte.

Im Trauma-indizierten Kontext wird hier von einer Flucht-Reaktion (Fight/Flight/Freeze/Fawn) gesprochen, die bei sehr hohem inneren Stress auftritt. Das ist das, was der Ghoster letztlich tut: Er flüchtet aus der Situation – und wählt den für ihn bequemsten Weg. In Fight oder Flight ist unser „Mammut-Hirn“ aktiv. Das heißt, es geht nur noch um´s Überleben. Es geht nicht um „Lösungen zusammen zu finden“ oder „miteinander reden“ – diese Areale sind für den Flüchtenden in diesem impulsartigen Überlebensmoment nicht zugänglich. Er (oder sie) will einfach nur weg (aus der „Gefahr“).

Der Ghoster ist – aufgrund früher einschneidender Erlebnisse – sozusagen „steckengeblieben“. Emotional. Er durfte und konnte sich nicht entwickeln, die Entwicklung wurde vielleicht durch ein oder mehrere stressvolle (traumatische) Ereignisse gebremst und die emotionale Reifung wurde dadurch gehemmt. Und so ist da ein erwachsener Mensch, der emotional ein 4-jähriger ist – und sich nicht anders zu helfen weiß.

Manchmal stecken ebenso noch andere Themen hinter dem Ghosting – und der sicht- und fühlbare Kontaktabbruch ist die äußere Realität für eine innere vermeidende (Ver)Bindungsstörung. Menschen, die mit diesem Bindungsverhalten aufgewachsen sind, wünschen sich zwar Verbindung, können diese aber nicht „aushalten“, und vermeiden sie in Folge.

Verbindung schafft Lebendigkeit und Lebendigkeit schafft Verbindung. Verbindung wiederum schafft Verbindlichkeit. Respekt. Und Wertschätzung. Fehlt die Verbindung zu sich selbst – fehlt sie auch zu anderen. Die Basis ist immer die Verbindung zu uns selbst.

Der Geghostete: das Opfer?

Für ihn oder sie bricht eine Welt zusammen. Abrupt wird ein Kontakt eingestellt – und die einstige Beziehung, die WhatsApp-Nachrichten, die Gespräche – all das existiert nicht mehr. Ohne Erklärung. Das genau macht es so schwer, denn der Abschluss – durch den die seelische Verarbeitung einer „normalen“ Trennung gelingen würde, wird durch Ghosting verweigert.

Wenn der Ghoster hier theoretisch als „Täter“ auftritt, ist der Geghostete in dieser Konstellation automatisch das „Opfer“. Dieser Kreislauf des Dramadreiecks muss durch den Geghosteten aktiv unterbrochen werden.

Diese dahinterliegende Dynamik aber kann der Geghostete erst einmal gar nicht erkennen, geschweige denn Verstehen. Kein Wunder: Wer versteht schon, daß ein anderer Mensch ohne Vorwarnung „die Schotten dicht macht“? Die Frage nach dem WARUM ist erst einmal präsent und kreist unaufhörlich im Kopf des Leidenden.

Das Nicht-Verstehen, weil es keinen Grund gibt, ist auch das, was die tiefe Verletzung auslöst. Fragen wie: Was habe ich falsch gemacht? Habe ich überhaupt etwas falsch gemacht? Ich habe dich gar nichts falsch gemacht! – finden kein Ende – es gibt schlichtweg keine Antwort eines Gegenübers – und damit keinen „Abschluss“.

Um aus genau dieser Nummer auszusteigen, braucht es viel Kraft. Und jemanden als Begleitung. Denn der Kreislauf, der da entstanden ist, hat – chemisch gesehen im Gehirn – Suchtfaktor.

Die erste Erkenntnis dabei ist: Ich bin nicht das Opfer. Aus meiner eigenen Geschichte heraus aber habe ich mich dazu gemacht.

Die logische Konsequenz daraus, was notwendig ist, ist: Innere (Trauma) Arbeit.

Trauma durch Ghosting

Immer Online, aber nicht verbunden: Kein Anschluss unter dieser Nummer

Die Verbindung zu uns selbst ist abgerissen. Das Smartphone ersetzt den echten Kontakt.

Wir laufen in Schuhen mit Plastiksohlen und beim Spaziergang schieben wir sinn-los den Kinderwagen durch die Gegend, nicht sehend, riechend, fühlend, was um uns herum geschieht. Das Baby wird desorientiert aufwachsen, weil es keinen Kontakt aufnehmen kann und keinerlei Rückkopplung erhält. Der Hund dreht völlig durch und pöbelt an der Leine, weil er nie lernen konnte, wie Kontakt und Kommunikation mit seinem Menschen – und anderen Lebewesen – funktioniert.

Kontakt- und Kommunikationslos eiern wir durch die Gegend – und wundern uns, daß es keine Verbindung mehr gibt. Daß niemand mehr Verantwortung übernehmen will. Und niemand echte Gespräche führen kann.

Wir haben uns verloren.

Innere Heilwerdung

Um den Kontakt – mit uns selbst – wieder aufzunehmen, braucht es Innere Arbeit. Das ist gar nicht so einfach, denn dazu dürfen wir wieder Spüren lernen. Fühlen. Wahrnehmen. Uns erden. In Kontakt gehen.

Das aber… ist genau das, was uns verwundbar macht. Womöglich auch alte Wunden aufreißt. Deshalb sind wir – völlig fliessend und unbemerkt – kontaktlos mit uns selbst geworden.

Die wichtigsten Schritte aus dem Ghosting sind:

  • Wahrnehmung: ich bin nicht das Opfer – ich übernehme die Verantwortung für mich und meine Gesundheit
  • Unterstützung suchen: Der Weg aus einer emotionalen Sucht und aus einem Trauma ist alleine sehr steinig
  • Selbstfürsorge: Was tut mir gut? Welche Menschen saugen mich energetisch aus? Wo setze ich keine Grenzen?

Der Weg mit fundierter und trauma-sensitiver Unterstützung geht über Innere Kind-Arbeit, Somatische Körper- und Systemische Arbeit, Arbeit mit kreativen Ansätzen, über Yogatherapie und Atem und sicher auch über EMDR.

Es ist ein Prozess, bei dem professionelle Unterstützung essenziell ist.

Ghosting im Unternehmenskontext

Disconnected. Unverbunden.

Diese Worte, die wir normalerweise mit technischen Störungen oder veralteten Telefonnummern in Verbindung bringen, beschreiben zunehmend auch unsere Beziehungen in der Unternehmenswelt. Ob es nun an der mehr und mehr disruptiveren und digitalen Welt liegt, sei dahingestellt. Auffallend ist, daß Verbindlichkeit und Respekt auch in Unternehmen immer mehr zu Fremdworten werden.

Emotionale Gewalt mit Ghosting

Schon in Bewerbungsprozessen fängt Ghosting an. Sowohl auf der Seite der Bewerber, als auch vermehrt auf der Seite der Personaler. Das Bewerbungsgespräch lief gut – und selbst Monate später kommt kein Feedback. Der Vertrag wurde beidseitig vereinbart und versandt – aber niemand unterzeichnet oder erscheint nach Unterzeichnung im Büro.

Fakt ist: Neigt ein Mensch „im Privaten“ zum Ghosting, nimmt er dieses Verhalten natürlich mit in sein Arbeitsleben. Wir nehmen uns selbst ja immer mit – deshalb unterscheide ich nicht zwischen „Privat“ und „Geschäftlich“. Menschen formen Unternehmen und die Unternehmenskultur – und so werden Themen, die im Inneren nicht gelöst sind, in die Unternehmenskultur eingewebt. Sind es mehrere Menschen, verfestigt sich dieses Verhalten.

Ghoster sind feige.

Sie scheuen den Konflikt. Selbst dann, wenn es gar keinen Konflikt geben würde. Sie implizieren automatisch, daß es sicherlich einen geben wird, wenn sie – aus ihrer Sicht – absagen. Und deshalb vermeiden sie einen möglichen Konflikt. So haben sie es gelernt.

Diese Art der Respektlosigkeit zieht weiter ihre Kreise, solange Menschen sich nicht auf ihren persönlichen Entwicklungsweg machen. Da ist meine ganz persönliche Meinung und meine Erfahrung über Jahre in der Arbeit mit Menschen.

Das größte Dilemma ist dabei die Rolle von Menschen, die auf Führungspositionen gesetzt wurden und die keinerlei Zugang zu sich selbst haben, sondern sich im (unbewussten) Funktionsmodus befinden. Sie sind die Treiber von toxischen Unternehmenskulturen, da Kulturen immer von Innen nach Außen entstehen.

Ghosting ist mehr als nur eine persönliche Kränkung. Es ist ein Symptom für eine große Verschiebung in unserer Kommunikationskultur, eine, die Anonymität und Distanz über persönliche Verantwortung, Empathie, Wertschätzung und Respekt stellt. Es ist ein Zeichen dafür, wie leicht es in unserer digitalen Welt geworden ist, Beziehungen zu beenden und Menschen zu entwerten.

Es ist ein Weckruf für uns alle, unsere (innere) Verbindung und unsere Kommunikation zu überdenken.