Der Begriff der „Sucht“ ist meistens etwas, dem viele Menschen aus dem Weg gehen. Man will „damit“ nichts zu tun haben. Sucht ist in der Gesellschaft häufig mit Bildern verbunden, die nicht nur abschreckend, sondern auch stigmatisierend wirken. Szenen von „Junkies“ auf Bahnhöfen auf der Suche nach dem „nächsten Schuss“ oder von Menschen, die im Strudel des Alkoholkonsums gefangen sind, prägen unser kollektives Bewusstsein.

Diese sichtbaren und drastischen Darstellungen verstellen jedoch den Blick auf die subtileren, aber nicht weniger zerstörerischen Formen der Sucht, die sich oft unbemerkt in unserem Alltag eingenistet haben.

Gesellschaftlich gesehen wird Sucht und süchtiges Verhalten nicht nur geduldet, sondern es wird gefördert und sogar bewusst forciert.

Christine Rudolph, Traumatherapeutin, Psychotherapeutin (HPrG), Klinische Psychologin (i.A.), Systemische Therapeutin und Coach

Jeden Tag: Verborgene Gesichter der Sucht

Von der Arbeitssucht bis zu den Zwängen der digitalen Welt: Solche versteckten Suchtformen sind allgegenwärtig und tief in kulturelle und soziale Strukturen eingebettet. Diese Süchte wirken oft im Verborgenen, weil sie nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdienen – sei es, weil sie gesellschaftlich akzeptiert oder einfach missverstanden werden.

Hier setzt der polyvagale Ansatz an, der ein tieferes Verständnis des Wesens der Sucht und ihrer vielfältigen Erscheinungsformen ermöglicht.

Anstatt Suchtverhalten als individuelles Versagen zu betrachten – so wie es im kapitalistisch-gesellschaftlichen System gerne getan wird und dies als Grundlage des Systems fungiert – bietet dieser Ansatz ein Verständnis, das den gesamten menschlichen Organismus und seine Reaktion auf Stress und soziale Beziehungen in den Blick nimmt. Indem Sucht durch diese Linse betrachtet wird, können nicht nur die Symptome, sondern auch die zugrundeliegenden Mechanismen gesehen werden, die Menschen in destruktiven Mustern gefangen halten.

In Wahrheit gibt es viele Formen der Sucht, die subtiler sind und sich nahtlos in den Alltag vieler Menschen einfügen – so sehr, dass sie oft übersehen und als gesellschaftlich akzeptabel betrachtet werden. Zum Beispiel…

Arbeitssucht: In unserer leistungsorientierten Gesellschaft wird Arbeitssucht oft als Tugend angesehen. Menschen streben in ihrer Karriere nach Höchstleistungen und opfern dafür häufig ihre Freizeit und sozialen Kontakte. Die ständige Erreichbarkeit und die Erwartung, immer „on“ zu sein, führen zu chronischem Stress und Burn-out – ein klassisches Zeichen für süchtiges Verhalten.

Mobiltelefonsucht: Smartphones sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Ständig verbunden zu sein, hat zwar seine Vorteile, doch es bringt auch die Versuchung mit sich, keine ruhige Minute mehr ohne den Blick auf den Bildschirm zu verbringen. Dies kann nicht nur zu Konzentrationsschwierigkeiten und einer eingeschränkten Fähigkeit führen, den Moment zu genießen.

Social-Media-Sucht: Die Jagd nach Likes und Aufmerksamkeit auf sozialen Medien kann zur Besessenheit werden. Die Priorisierung virtueller Interaktionen über echte Beziehungen ist ein typisches Kennzeichen dieser Suchtform. Die ständige Verfügbarkeit sozialer Medien führt zu einer oberflächlichen Wahrnehmung von sozialen Kontakten und beeinflusst das Selbstwertgefühl.

Internetsucht und Fernsehsucht: Die Flucht in die digitale Welt bietet vielen Menschen einen Ausweg aus dem Alltag. Ob stundenlanges Surfen oder Bingewatching – diese Formen der Sucht verschaffen kurzfristige Ablenkung, fördern jedoch langfristig soziale Isolation und können zu Depressionen führen.

Esssucht: In unserer emotional aufgeladenen Welt wird Esssucht oft als persönliches Problem übersehen. Viele Menschen nutzen Essen, um emotionale Lücken zu füllen oder Stress abzubauen, was zu regelmäßigen unkontrollierten Essanfällen führt. Trotz eines vollen Magens bleibt das emotionale Hungergefühl unerfüllt. Die Folgen sind ein ständiger Kreislauf aus Schuld und Scham, der durch Kompensationsmethoden wie Erbrechen noch verstärkt wird. Langfristig kann Esssucht zu ernsten gesundheitlichen Problemen wie Übergewicht und emotionalen Belastungen bis hin zu Depressionen führen.

Kaufsucht: In einer Konsumgesellschaft findet Kaufsucht oft unter dem Radar statt, dennoch treibt sie Menschen in einen Teufelskreis aus Kaufen und Reue. Der unwiderstehliche Drang zum Kaufen, oft ohne wirklichen Bedarf, bietet nur vorübergehend emotionale Befriedigung. Langfristig führt dies zu finanziellen Engpässen und zwischenmenschlichen Konflikten, da die kurzfristige Erleichterung schnell Schuldgefühlen und Frustration weicht.

Sportsucht: In einer Kultur, die Fitness und körperliche Perfektion hoch schätzt, wird Sportsucht oft als Streben nach Gesundheit missverstanden. Doch der zwanghafte Drang zu trainieren, selbst bei Erschöpfung oder Verletzung, zeigt die Grenzen dieser Sucht auf. Angetrieben durch emotionale Stressbewältigung oder das Streben nach idealisierten Körperbildern, kann diese Überforderung des Körpers zu ernsten physischen Schäden und Isolation führen, da sich das Leben der Betroffenen zunehmend um das Training dreht, zulasten persönlicher Beziehungen und anderer wichtiger Lebensbereiche.

Das ist nur eine kleine Auswahl an den gängigsten Süchten – und meist sind sie verdeckt. Das heißt, wir nehmen sie selbst erst einmal gar nicht wahr. Die Arbeitssucht oder die Social-Media-Sucht gehören zum Beispiel dazu. Sie tarnen sich als alltägliches Verhalten und werden oft ignoriert, bis das Problem nicht mehr zu leugnen ist. Das Bewusstsein für die Existenz solcher Süchte ist der erste Schritt, um ihnen entgegenzutreten und Lösungen zu finden, die auf einem umfassenden Verständnis basieren.

Der polyvagale Ansatz kann hierbei unterstützen, indem er hilft, die Rolle von Stress und sozialem Verhalten in diesen Suchtmustern zu verstehen und gezielt anzugehen.

Was ist Sucht, und was hat das Nervensystem damit zu tun?

Sucht – sucht.

Christine Rudolph, Traumatherapeutin, Psychotherapeutin (HPrG), Klinische Psychologin (i.A.), Systemische Therapeutin und Coach

Was sucht die Sucht? Sie sucht, was sie nie finden konnte. Wärme. Geborgenheit. Gehalten werden. Angenommen sein. Menschlichkeit. Sie findet es, nach vielen Enttäuschungen in frühester Zeit und im Jetzt, in Substanzen, die betäuben. Die das Gefühl hinunterdrücken. Bloss nicht fühlen! Und ein bisschen Wärme…

Was hat das Nervensystem mit all dem zu tun?

Alles. Ich erkläre diesen Mechanismus einmal an unserem Nervensystem im Zusammenspiel mit dem polyvagalen Ansatz.

Was heißt polyvagal?

  • Poly: bedeutet „viele“. In diesem Zusammenhang bezieht es sich darauf, dass es mehrere Zustände oder Wege gibt, wie unser Nervensystem reagieren kann.
  • Vagal: bezieht sich auf den Vagusnerv, einen wichtigen Nerv in unserem Körper, der viele Funktionen steuert, darunter Herzschlag, Atmung und Verdauung. Er spielt eine zentrale Rolle dabei, wie wir auf Stress und soziale Signale reagieren.

Die Polyvagal-Theorie beschreibt die vielen Arten, wie unser Vagusnerv unser Verhalten und unsere Gefühle beeinflusst und steuert.

Der polyvagale Ansatz bietet eine neuartige Perspektive auf das Verständnis und die Behandlung von Sucht, indem er das Zusammenspiel von Nervensystem, Emotionen und sozialen Interaktionen in den Fokus rückt. Diese Theorie, entwickelt von Dr. Stephen Porges, erklärt, wie unser autonomes Nervensystem auf Stress und zwischenmenschliche Interaktionen reagiert und wie dies das Verhalten, einschließlich Suchtverhalten, beeinflusst.

Aus dem Blickwinkel des polyvagalen Ansatzes wird Sucht nicht als isoliertes Fehlverhalten verstanden, sondern als komplexer Bewältigungsmechanismus im Kontext des autonomen Nervensystems. Die Polyvagal-Theorie betont hierbei, dass all unser Verhalten, einschließlich süchtigem Verhalten, durch die Reaktionen unseres Nervensystems auf soziale und emotionale Herausforderungen und Traumata beeinflusst wird.

Was heisst das?

Unser Nervensystem ist darauf ausgelegt, uns sicher zu halten. Und das tut es, ganz instinktiv. Und zwar mit allen erlernten Strategien, die wir haben. Wenn wir in Stresssituationen in früher Kindheit gut reguliert wurden, durch in den Arm nehmen, streicheln, zuhören… dann haben wir selbst Regulationsfähigkeit erlernt. Zusätzlich werden wir uns vielleicht etwas Gutes tun, mit einer Yogaübung, einer Massage, einem Spaziergang, um den Kopf frei zu bekommen.

Haben wir das aber so nicht erlernt, weil niemand da war, der uns reguliert hätte oder haben wir andere Verhaltensweisen gesehen, dann werden wir diese intuitiv kopieren (unser System saugt alles bis zum 21. Lebensjahr auf wie ein Schwamm. Besonders kritisch ist der Zeitraum bis 7 Jahre).

Was macht ein kleines Kind, was sich selbst beruhigen muss, aber dies nie erlernt hat?

Es ist unter extremem Stress und Unruhe, weil es keinen Weg kennt, um sich zu beruhigen. Vielleicht hat es emotionale Ausbrüche oder zeigt verschiedenen äußeren Beruhigungen wie wie exzessives Daumenlutschen, Nägelkauen oder andere selbstberuhigende Maßnahmen wie Bettnässen.

Das Bindungsverhalten wird ohne zuverlässige Beruhigung von Bezugspersonen schwierig werden.Oftmals entstehen Unterbrechungen in der Bindungsentwicklung haben, was päter zu Unsicherheiten in Beziehungen mit abhängigem oder ängstlichem Bindungsstil führt (und weiteren Problematiken…).

Sucht als Bewältigungsmechanismus

In der polyvagalen Betrachtungsweise wird Sucht als eine Strategie betrachtet, die Menschen einsetzen, um mit dysregulierten Zuständen des Nervensystems umzugehen. Wenn Menschen Stress oder Bedrohungen erleben, reagiert das autonome Nervensystem instinktiv. Instinktiv heißt: Bei Gefahr reagieren wir mit dem ältesten Teil unseres Nervensystems völlig aus dem Reflex. Bei anhaltendem Stress oder erlebten Traumata in jungen Jahren kann unser Nervensystem auf Dauer nicht verarbeiten: es wird völlig überflutet.

Überflutung heißt: Too much.

Besonders kritisch, wenn dies schon im Kleinstkindalter passiert, denn Babies und Kinder können sich selbst eben nicht regulieren. Wenn dann niemand da ist, der sie in die Sicherheit reguliert, greifen wir instinktiv auf andere Beruhigungen zurück. Das mag im Kindesalter das Daumenlutschen sein – und später vielleicht die Zigarette oder der Alkohol.

Menschen greifen auf Suchtmittel oder -verhaltensweisen zurück, um sich in einen Zustand der scheinbaren Kontrolle, Sicherheit oder Linderung zu versetzen.

Ganz normal also – aus Nervensystemsicht. Die Krux: Diese Mechanismen sind lange einstudiert (meist seit Kindesbeinen an) und wirken nur kurzfristig „entspannend“ und bergen langfristig das Risiko, die Probleme zu verstärken oder neue zu erzeugen.

Insgesamt bietet diese Sichtweise ein tiefes Verständnis dafür, warum Menschen in Süchte verfallen und zeigt neue Wege zur Heilung auf, indem sie sich auf die biologischen und sozialen Grundlagen des Verhaltens konzentriert.

Arbeitssucht: Je mehr Du machst, umso mehr wirst Du gefeiert

Arbeitssucht ist eine der am häufigsten übersehenen Formen der Sucht, da sie oft in einem positiven Licht dargestellt wird. In der auf Leistung orientierten Gesellschaft wird das unermüdliche Streben nach Erfolg und Anerkennung nicht nur akzeptiert, sondern bewundert und gefördert. Du machst Überstunden? Perfekt! Du sagst zu allem Ja und vernachlässigst Deine privaten Dinge? Du hast die besten Chancen! Du stellst erst den Job vor alles andere? Herzlichen Glückwunsch! Du wirst befördert! Meistens ziemlich alleine, aber was solls!

Diese Kultur des unendlichen Perpetuum Mobile des Höher, Schneller, Weiter… fordert ihre Opfer. Physisch und psychisch. Die Krux: Sie dürfen sich nichts anmerken lassen. Sonst sind sie „raus“. Um dem Stress dann irgendwann noch Herr zu werden, auch wenn nichts mehr geht, greifen die meisten zu weiteren Drogen, oftmals Alkohol. Und wenn der nicht mehr „ausreicht“, werden es härtere Drogen.

Um zu funktionieren. Gefangen in Abhängigkeiten und Süchten.

Ein absolut krankes System. Aufgebaut auf maschinenhafter Leistung, nicht auf Menschlichkeit. Wer hier auf der Strecke bleibt, ist klar.

Gesellschaftliche Akzeptanz und Förderung

Arbeitssucht wird häufig als Tugend betrachtet. Menschen, die ständig erreichbar sind und Überstunden machen, werden oft als vorbildlich wahrgenommen. Firmen belohnen solche Verhaltensweisen mit Beförderungen und Boni, was den Zyklus weiter verstärkt. Diese gesellschaftliche Akzeptanz macht es schwierig, die Gefahren der Arbeitssucht zu erkennen und anzugehen.

Die unsichtbaren Gefahren

Hinter der Fassade von Erfolg und Anerkennung verbirgt sich jedoch ein toxischer Kreislauf aus chronischem Stress, Erschöpfung und Burnout. Arbeitssüchtige riskieren ihre körperliche Gesundheit durch Schlafmangel und erhöhte Stresshormone. Psychisch leiden sie oft unter Isolation, da soziale Beziehungen zugunsten der Arbeit vernachlässigt werden.

Arbeitssucht

Volksdroge Alkohol: Gesellschaftlich ein Muss, wenn Du dazugehören willst

Dazugehören. Teil einer Gruppe sein. Familie. All das… ist tief in uns Menschen verankert. Wenn das Mammut unterwegs war, war es wichtig, nicht alleine zu sein, sondern den Schutz einer Gruppe zu haben. Diese tief in uns verankerte Dazugehörigkeit ist immer noch Dreh- und Angelpunkt unseres Seins. Menschen werden zum Beispiel depressiv, wenn sie keine Menschen um sich herum haben, von denen sie sich angenommen fühlen.

Und dann Alkohol. Soziales Verbindungselement.

Deutschland gilt im weltweiten Vergleich als Hochkonsumland für Alkohol. 87% aller Menschen zwischen 18 und 59 Jahren haben in den vergangenen 12 Monaten statistisch mindestens einmal Alkohol konsumiert.

In vielen Kulturen tief verwurzelt und wird mit dem Zusammensein unter Freunden, Feiern und Entspannung assoziiert. Gesellschaftlich vollkommen akzeptiert, das heißt: Alkohol ist völlig „normal“ und gehört selbstverständlich dazu. Bei gutem Essen, bei Feiern, im Urlaub. Immer. In Bayern war/ist Alkohol sogar während der Arbeit erlaubt bzw. geduldet. „Normalität“. Und niemand hinterfragt sie.

Gesellschaftliche Akzeptanz = „Normal“ trifft auf Werbung, die Alkohol fördert und forciert – und verschleiert die Risiken, die mit JEDEM Konsum einhergehen!

Bacardi Feeling… it´s never been so easy… Alkohol bedeutet Leichtigkeit, Lebensfreude und Community. Das verkauft sich! Alkoholwerbung, wie die berühmte „Bacardi Feeling“-Kampagne, zeigt das Bild von Spaß und Unbeschwertheit und glamourisiert den Konsum. Die Vorstellung, dass Alkohol ein unverzichtbarer Bestandteil sozialer Interaktionen ist. Geburtstage, Hochzeiten oder berufliche Erfolge – ein Gläschen wird ja schließlich niemand verwehren.

Alkoholkonsum erscheint als völlig normal und harmlos. Und der, der nicht „mitmacht“, ist eben ein Spielverderber. Der ist „raus“. Ausgrenzung findet alltäglich statt.

Natürlich wird nicht jeder gleich abhängig, aber Fakt ist, daß Alkohol als Droge vollkommen legal und ganz bewußt zum gesellschaftlichen Alltag dazugehört. Das heißt, gesellschaftlich gesehen ist die gesamte Gesellschaft auf Droge. Abhängig. Industrien verdienen ihr Geld mit dieser Abhängigkeit: Hersteller, Marketingfirmen, das sogenannte „Gesundheitssystem“.

Alkohol am Arbeitsplatz
Bier am Arbeitsplatz

Wenn eine Gesellschaft abhängig ist, ist sie nicht klar. Sie trifft Entscheidungen aus ihrer Sucht heraus. Wenn eine Gesellschaft abhängig ist, wie soll sie gesunde Entscheidungen treffen? Wie gesunde Kinder in die Welt setzen? Wie sich selbst helfen?

Die süchtige Gesellschaft wird jeden ausgrenzen, der sich der Sucht nicht verschreibt.

Digitale Abhängigkeit: Social-Media-Sucht – die Suche nach Anerkennung

Die digitale Ära hat die Art und Weise, wie wir kommunizieren und unsere Beziehungen gestalten, fundamental verändert. Während Social Media und das Internet sicherlich viele Vorteile bieten, führen sie auch zu neuen Herausforderungen.

Eine der größten Herausforderungen ist die Abhängigkeit. Die Abhängigkeit von „Likes“, von „sofort antworten“, von „stundenlangem Scrollen“, von „immer online sein müssen“. Eine zutiefst traumatisierte süchtige Gesellschaft erhält nur noch ein weiteres Suchtmittel dazu. Die Auswirkungen betreffen nicht nur unser Wohlbefinden, sondern ganz tiefgreifend unsere Fähigkeit zur Bindung – und der Verbindung zu anderen – und zur Umwelt.

Du bist nur am Smartphone? Was das mit Deinem Kind macht

Bindung ist ein zentraler Aspekt der menschlichen Entwicklung, insbesondere in der frühen Kindheit. Babys und Kleinkinder sind besonders darauf angewiesen, dass ihre Bezugspersonen – und essenziellen Bindungsbeziehungen – emotional und physisch verfügbar sind. Die ständige Präsenz von Smartphones und anderen digitalen Medien beeinträchtigt aber genau das: die Emotionale Verfügbarkeit.

Aus bindungstheoretischer Sicht sind Babys und Kleinkinder auf die feinfühlige Reaktion und die konstante Zuwendung ihrer Eltern angewiesen, um ein sicheres Bindungsverhalten zu entwickeln. Wenn Eltern regelmäßig durch digitale Geräte abgelenkt sind, erhalten Kinder keine zuverlässige und konsistente Aufmerksamkeit, die sie benötigen.

Kinder sind mega feinfühlig – ständiges am Smartphone hängen (auch bei Spaziergängen und Kind im Kinderwagen) gibt einem Kind ein Signal: Du bist NICHT wichtig. Was daraus folgt, sind das Gefühl von „Ich bin nicht wichtig“ oder „Ich bin nicht gut genug“ – und später langfristige Unsicherheiten in Verhalten und Bindung (Bindungsunsicherheit).

Ich erlebe Menschen mit all diesen Thematiken schon heute in meiner Arbeit – wie soll das in 20 Jahren aussehen???!

Eine unsichere Bindung in jungen Jahren hat weitreichende Auswirkungen. Sie behindert die soziale und emotionale Entwicklung eines Kindes und führt zu Problemen im Selbstwertgefühl sowie in der Fähigkeit, später im Leben gesunde Beziehungen aufzubauen. Kinder können soziale Signale nicht richtig interpretieren oder sind nicht in der Lage, stabile Beziehungen zu Gleichaltrigen zu formen.

Kinder, die erleben, dass ihre Eltern auch in intimen Momenten durch digitale Geräte abwesend erscheinen, lernen, dass zwischenmenschliche Bindungen oberflächlich sind und müssen zum Beispiel digitale Medien als Ersatz für elterliche Aufmerksamkeit und Liebe nutzen. Diese früh eingeprägten Verhaltensmuster beeinträchtigen ihre Fähigkeit, tiefe, authentische Beziehungen zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Dieses Phänomen führt oft dazu, dass Kinder selbst zunehmend digitale Medien als Trost oder Ersatz für fehlende elterliche Aufmerksamkeit suchen. Die Suche nach Liebe sucht sich einen Ersatz: die Droge „Social Media“. Die Fähigkeit, wirksame und stabile Bindungen zu entwickeln, kommt dadurch ins Wanken. Die soziale Kompetenz fährt herunter und die emotionale Stabilität ist labil.

Außerdem können digitale Ablenkungen das Bild, das Kinder von ihren Eltern haben, sehr negativ verändern. Die Kinder denken, dass sie für ihre Eltern nicht so wichtig sind, und das kann sich langfristig negativ auf ihr Selbstwertgefühl und ihre psychische Gesundheit auswirken.

Die Sucht nach digitalen Medien, die ja nicht so offensichtlich ist, beeinflusst die Bindung zwischen Eltern und Kindern und damit auch die kindliche Entwicklung. Es ist wichtig, dass Eltern ein Bewusstsein und eine Sensibilität für den Umgang mit digitalen Medien entwickeln und bewusst „Offline-Zeiten“ – auch bei Spaziergängen – einplanen, um die emotionale Bindung und physische Nähe zu sich selbst und ihren Kindern zu stärken. Eine gesunde, verbundene und stabile Familie ist die Basis einer emotional stabilen Entwicklung. Auch mit Tieren übrigens. All das bedeutet Nervensystem-Balance aus polyvagaler Sicht.

Social Media Sucht

Eine Droge ist eine Lösung. Nicht das Problem.

Christine Rudolph, Polyvagale Traumatherapeutin

Drogensucht: Verzweifelte Suche nach Ersatz für menschliche Wärme

Warum nimmt jemand Drogen? Wieso wird jemand süchtig? Aus der polyvagalen Perspektive entstehen auch hier völlig andere Sichtweisen auf ein „Problem“.

Aus meiner Sicht sind die Drogen selbst nicht „das Problem“, sondern sie sind – und waren einst – ursprünglich die Lösung. Eine ungesunde Lösung, das sicher. Aber eine Lösung.

Eine Lösung für was?

Für Schmerz. Unendliches Leid. Unser Nervensystem re-agiert in Zeiten von Überforderung (Stress/Angst…) aus dem archaischen Teil heraus, ist genau dies auch die Antwort: Unser Nervensystem a-giert nicht achtsam, sondern re-agiert – aus Überforderung – und weiss sich nicht anders zu helfen, um sich zu beruhigen. Dieser Mechanismus entsteht schon früh: Wurde ein Kind bei Stress nicht oder selten reguliert (in den Arm genommen, gestreichelt, beruhigt…), dann ist da eine riesige Leere. Diese Leere bleibt. Und wird im erwachsenen Alter, wenn die darunter liegende Grundursache nie bearbeitet worden ist, wieder aktiviert. Meistens völlig unwissentlich.

Dysregulation des Nervensystems und Einsamkeit

(Drogen)Sucht entsteht, wenn ein Nervensystem dauerhaft aus dem Gleichgewicht gerät. Chronischer Stress oder Traumata in der Kindheit führen häufig zu einem Zustand, in dem der Körper Schwierigkeiten hat, in den beruhigenden, sogenannten ventralen Vagus-Zustand (der Zustand, in dem man sich wohlfühlt) zurückzukehren. Drogen werden dann als Mittel eingesetzt, um kurzfristig eine scheinbare Erleichterung zu finden.

Einsamkeit, ein Mangel an stabilen, unterstützenden Bindungen (meist schon seit dem Kindesalter) verstärken das Bedürfnis nach alternativen Beruhigungen. Drogen sind vorübergehende Flucht und auch Ersatz für fehlende soziale Verbindungen, vor allem, wenn man aus dysfunktionalen oder traumatischen Umfeldern stammt.

Droge = Emotionaler Bewältigungsmechanismus

Die Droge – ist letztlich eine Lösung. Intensive Emotionen, die überwältigend sind, und deren Regulation nie erlernt wurde, „brauchen“ die Droge, um unangenehme Gefühle zu lindern und in einen Zustand zu kommen, in welchem nicht mehr gefühlt wird. Der Zustand der Angst und Panik (Hyperarousal) oder den Zustand der Depression und Erstarrung (Hypoarousal) wird vorerst unterbrochen.

Echtes Glück – auch wenn dies oft von Menschen in der Sucht erzählt wird, wird nicht „gefunden“. Das Kurzzeit-„Glück“ oder zumindest die Abwesenheit von Schmerz ist einfacher und schneller zu erreichen – mit Drogen – und so entsteht irgendwann die Abhängigkeit.

Polyvagaler therapeutischer Ansatz

Therapeuten, die mit dem polyvagalen Ansatz arbeiten, zielen darauf ab, das autonome Nervensystem der Klienten besser zu regulieren und das Window of Tolerance zu erweitern. Dies geschieht durch Techniken, die das Bewusstsein für körperliche Empfindungen schärfen und Mechanismen bieten, um in stressfreien Zuständen zu verweilen. Diese Herangehensweise fördert nicht nur die Reduzierung von Suchtverhalten, sondern stärkt auch die Fähigkeit zur sozialen Interaktion und zur emotionalen Resilienz.

Wieso es so wichtig ist, eigene Kindheitstraumata aufzuarbeiten

Meist ist ein Entwicklungstrauma die unter der Sucht liegende Thematik. Manchmal ist sie bewusst, oft aber auch nicht. Es ist essenziell, diesen tiefen erlebten Schmerz aufzuarbeiten – in einer sinnvollen, nachhaltigen und halt gebenden Trauma-Therapie. Am allerbesten (und für mich sinnvollsten) eine, die mit der polyvagalen Sichtweise und auch mit körpertherapeutischen Verfahren, wie zum Beispiel EMDR und traumsensitivem Yoga, ganzheitlich arbeitet.

Warum? Weil ansonsten nur die Auswirkungen „bekämpft“ werden. An der Oberfläche. Aber die Tiefe fehlt. Das Arbeiten an der Wurzel. Weil ansonsten die Folgeerscheinungen des Traumas (Abhängigkeit, Sucht, Depression…) bleiben. Und damit die Abhängigkeit. Die zu einem ON/OFF wird. Und sobald der nächste „Trigger“ kommt – ist man wieder drin.

Ich empfehle Dir sehr, dieses Video anzusehen. Es beschreibt, wie Kindheitstraumata und Transgenerationale Traumata Sucht auslösen können – und meist tun.

Ich arbeite mit vielen Menschen, die sich in Abhängigkeiten verfangen haben und begleite Dich gerne.

Christine

Polyvagale Therapeutin/Psychotraumatologin/EMDR-Traumatherapeutin/Systemische Therapeutin, Aufstellerin und Systemischer Interkultureller Coach/Heilpraktikerin für Psychotherapie